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UNiMUT aktuell: Sind Sozial- und Geisteswissenschaftler evolutionsbedingt passé?

Kommentar zum Exzellenzwettbewerb

Sind Sozial- und Geisteswissenschaftler evolutionsbedingt passé? (12.11.2006)

Mit Veröffentlichung der Ergebnisse des Exzellenzwettbewerbs war die Katze aus dem Sack gelassen: die Geistes- und Sozialwissenschaften sind die Verlierer schlechthin. Nur einer von 17 Exzellenzclustern entfällt auf diese Studienausrichtungen und nur vier von 18 Gradiertenschulen. Lediglich eine einzige der drei für ihr Zukunftskonzept prämierten Universitäten, die LMU in München, integrierte die Geistes- und Sozialwissenschaften. Doch leider wird ihnen selbst dort kaum Bedeutung beigemessen.

Glaubt man den Recherchen, die von den beiden Zeitredakteuren Ulrich Schnabel und Martin Spiewak in ihrem Artikel "Die Topographie der Exzellenz" vom 19.10.06 zusammengetragen wurden, dann wären insbesondere die Geisteswissenschaftler nicht besonders für eine "Zusammenarbeit in großen Forschungsverbünden" geeignet. Dann bräuchten vor allem sie "Zeit und Muße zum Nachdenken".

Mit dieser Form der Eigenbrötlerei hätten sie sich selbst ins eigene Fleisch geschnitten: Zum einen hätten durchaus kluge Köpfe erst gar keine Anträge eingereicht. Zum anderen scheinen sie zu sehr dem genauen Denken verpflichtet und über ihre fachspezifische Stärke wie über die eigenen Füsse gestolpert zu sein. So hätten die geisteswissenschaftlichen Fachgutachter laut Aussage eines Jurymitglieds mit "disziplinspezifischem Kannibalismus" geglänzt. Diese Form der Kritik hätte bei den entscheidenden Abstimmungen in vielen Fällen den Ausschlag zur Benachteiligung der Geisteswissenschaften gegeben.

Ist es wirklich so? Gehören die in Deutschland arbeitenden Geistes- und Sozialwissenschaftler wirklich zu einer Gruppe Wissenschaftler, die sich quasi masochistisch selbst zerfleischen und den Ast auf dem sie sitzen systematisch selber absägen?

Machen die sozial- und geisteswissenschaftlichen Studienzweige blind für ökonomische Zusammenhänge? Oder noch schlimmer: schalten sie auf Dauer den gesunden Menschenverstand und angeborenen Überlebensinstinkt aus? Ist der typische Sozial- und Geisteswissenschaftler im Kampf der Fittesten berechtigterweise unterlegen und für ein Leben in globalisierten Zusammenhängen ungeeignet - gar überflüssig?

Dies darf man bezweifeln -- massiv. Widersprechen muss man auch dem, durch das Ergebnis des Exzellenzwettbewerbs implizit zum Ausdruck gebrachten, Urteil, die Geistes- und Sozialwissenschaften seien irrelevant für die Zukunft und mit ihnen wäre der Weg zur "Weltspitze der Wissenschaft" nicht machbar.

Noch ist ein Staat kein Aktienunternehmen mit Vorstand und Aufsichtsrat, noch brauchen wir gut ausgebildete Politiker, Staatsbeamten und mündige Staatsbürger. Letztere werden nicht allein durch die naturwissenschaftlichen und medizinischen Fächer ausgebildet. Selbst die Wirtschaft müsste dies begreifen, denn gerade die Wirtschaftsvertreter schimpfen am lautesten über unzulänglich gebildete Mitarbeiter. Wie sonst, als mit den auch sozialwissenschaftlich ausgebildeten Lehramtsstudenten sollte eine bessere Schule gesichert werden können? Wie sonst, als mit Studenten aller sprachwissenschaftlichen Richtungen sollten der Staat und die Wirtschaft sich mit "Humankapital" ausstatten, welches mit der globalisierungsbedingten Notwendigkeit der Sprach- und Kulturmittlung umzugehen weiß. Wie sonst, als durch ein Studium der Soziologie, Geschichte und Philosophie, um nur einige zu nennen, sollten Antworten auf Fragen gefunden werden, die derzeit aufgeworfen werden? Oder ist es schon beschlossene Sache, dass wir als Gesellschaft uns dem Diktat des Kapitals unterwerfen, dass es keiner politischen Korrektur bedarf, dass wir soziologische und historische Erkenntnisse zu den Ursachen von Gewalt, Terrorismus und Krieg nicht benötigen?

Im Übrigen wird die "Weltspitze der Wissenschaft" nicht nur von Naturwissenschaftlern und Medizinern gebildet. Meines Wissens gehören auch die Brüder Humboldt, Albert Einstein, Christa Wolf oder Niklas Luhmann zur Spitze.

Nachtrag: Für einen schnellen Überblick zum Thema Geistes- und. Sozialwissenschaften seien folgende Links genannt: Geisteswissenschaften , Sozialwissenschaften

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Druckfassung

Erzeugt am 12.11.2006

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