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Etikettenschwindel und andere Hässlichkeiten

Ich denke, es versteht sich von selbst, dass das Folgende spätestens seit der Einführung der verfassten Studierendenschaft in Baden-Württemberg (2012) nur noch historische Bedeutung hat. Aber davon jede Menge.

Oder: Warum es in Heidelberg keinen AStA gibt, dieser aber nur einmal im Jahr tagt.

Die Fachschaftskonferenz (FSK) ist der uniweite Zusammenschluß aller Fachschaften. Jede Fachschaft hat in ihr eine Stimme. Fachschaften haben sich an fast allen Fachbereichen als die Interessengemeinschaften gebildet, die sich vor Ort für die Belange der Studierenden eines Faches einsetzen. Diese Vertretungs- und Arbeitsstrukturen haben sich als Ersatz für fehlende gesetzlich verankerte Mitbestimmungs- oder gar Vertretungsgremien gebildet. Daher wird die FSK als unabhängiges Gremium bezeichnet - im Gegensatz zu den abhängigen, offiziellen Gremien.

Vier Hauptfunktionen nimmt die FSK wahr: die Fachschaften sprechen sich untereinander ab, die hochschul- und allgemeinpolitische Aktivitäten von Referaten und Arbeitskreisen werden diskutiert, geplant und ggf. beschlossen, die Arbeit der FSK-VertreterInnen in offiziellen Gremien wird koordiniert und über die Verwendung von Geldern entschieden.

Darüber hinaus treten Fachschaftslisten bei den Wahlen zu den offiziellen Gremien an den einzelnen Fakultäten und seit 1989 auch eine FSK-Liste zu den uniweiten Gremienwahlen an; daß sie in den Wahlen die Mehrheit errangen, zeigt, daß das FSK-Modell von der Mehrheit der WählerInnen dem gesetzlichen, von der Regierung aufoktroierten Modell vorgezogen wird.

Wozu eine Studierendenvertretung?

Die Universität Heidelberg ist eine Lehr- und Forschungseinrichtung mit über 400 ProfessorInnen, mehr als 30.000 - 9.000 Studierenden und vielen sonstigen MitarbeiterInnen. Der Etat der Universität beträgt über 250 Millionen Mark.

Die Aufgabe der Universität, die "Pflege und Entwicklung der Wissenschaften und der Künste durch Forschung, Lehre und Studium" (Hochschulrahmengesetz [HRG] §2) stellt an eine großen Universität wie Heidelberg hohe finanzielle und organisatorische Anfoderungen. Es muß über Strukturen, Gelder oder Lehrpläne entschieden werden. Die Studierenden leben aber nicht nur an der Universität. Außerhalb der Universität wird über BAföG (Bundes-Ausbildungsförderungs-Gesetz), Wohnheimmieten oder kommunale Verkehrspolitik (Fahrradwege, Studiticket,...) entschieden. Die Einflußmöglichkeiten, die die Bevölkerungsgruppe "Studierende" durch die normalen demokratischen Prozeduren auf diese Politik erhält, sind minimal.

Um hier die Interessen der Studierenden durchsetzen zu können, muß es eine Instanz geben, die sie vertritt. In allen Bundesländern außer Bayern und Baden-Württemberg nimmt diese Aufgabe die Verfaßte Studierendenschaft (VS) wahr, d.h. die Studierenden geben sich eine Vertretung, meistens ein Studierendenparlament, das eine "Regierung", den AStA (Allgemeiner Studierendenausschuß), wählt. Dieser vertritt die Studierenden und beschließt über die zur Verfügung stehenden Finanzen. Die Fachschaften sind die Studierendenvertretungen auf Fachbereichsebene. Auch in Baden-Württemberg gab es bis 1977 eine Verfaßte Studierendenschaft.

Entscheidungen an der Hochschule

Die Entscheidungen an der Hochschule treffen Gremien, in denen alle "Gruppen", die Gruppe der ProfessorInnen, die der wissenschaftlichen MitarbeiterInnen (der sogenannte Mittelbau), die der Studierenden sowie der sonstigen MitarbeiterInnen vertreten sind. Mensch ist an das Dreiklassenwahlrecht in Preußen erinnnert, nur daß im Gegensatz dazu nicht alle Stände gleich viele Sitze haben. Der "erste Stand", die ProfessorInnen, wählt mehr VertretInnen als alle anderen Gruppen und stellt zusätzlich eine erhebliche Anzahl von Mitgliedern kraft Amtes.

Beschlüsse werden so letztendlich von einer Minderheit gefällt: den ProfessorInnen. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1973 (s.u.) müssen sie über die absolute Mehrheit in allen Entscheidungsgremien verfügen. Es gibt sogar Abstimmungen, in denen nur die Mehrheit der professoralen Stimmen zählt. In diesem Fall dürfen zwar alle abstimmen, allerdings werden nur die professoralen Stimmen gezählt. Hierzu werden "gezinkte" Stimmzettel ausgegeben: auf dem Stimmzettel wird markiert, ob mensch Prof oder nicht-Prof ist.

Die Einflußmöglichkeiten des Mittelbaus, der Studierenden oder gar der Sonstigen sind entsprechend gering. Nicht selten geht bei Vorschlägen von Studierenden bei vielen ProfessorInnen "die Klappe 'runter" - und da die Studierenden auch nicht gemeinsam mit allen anderen Gruppen die Profs überstimmen können, werden viele Vorschläge ohne Diskussion abgelehnt.

Doch in Bayern und BaWü reichte auch das nicht: dort wurde 1977 auch noch die Verfaßte Studierendenschaft abgeschafft. Um dies nachzuvollziehen, werfen wir einen Blick in die letzten 25 Jahre der Geschichte der Hochschulen:

Aus der jüngsten Geschichte der Demokratie an den Hochschulen

Die Grundeinheit der Universitätsselbstverwaltung bis 1969 war der Lehrstuhl bzw. dessen InhaberIn (Ordinarius). Er/sie hatte praktisch die alleinige Entscheidungsbefugnis für seinen/ihren Lehr- und Forschungsbereich. Sämtliche Gremien setzten sich aus LehrstuhlinhaberInnen zusammen. 1969 wurde die Ordinarienuniversität im Zuge der zunehmenden Forderungen nach Demokratisierung und Mitbestimmung seitens der Studierenden und AssistentInnen abgeschafft und die Gruppenuniversität eingeführt. Die Mitglieder der Uni wurden in die oben aufgeführten Gruppen eingeteilt. Für kurze Zeit stellte jede Gruppen außer den sonstigen Mitarbeitern gleich viele Mitglieder in den Kollegialorganen (Drittelparität). 1973 jedoch stellte das Bundesverfassungsgericht (mit 6:2-Mehrheit) fest, daß der grundgesetzlich garantierten Freiheit von Forschung und Lehre (Art. 5 GG) wegen die Gruppe der ProfessorInnen in allen Gremien eine maßgebende, in bestimmten Fragen sogar eine ausschlaggebende Mehrheit haben muß. Damit ist eine absolute bzw. in einigen Gremien eine hundertprozentige Mehrheit gemeint.

Aufgrund dieses Urteils mußte das Hochschulrahmengesetz (HRG) entsprechend geändert werden (das HRG ist das Gesetz, das den Rahmen für die Landeshochschulgesetze vorgibt). Im Zuge dieser Änderungen blieb die Verfaßte Studierendenschaft nur noch als "kann"-Bestimmung erhalten. Während sie vorher verpflichtend vorgeschrieben war, steht es seit dem HRG von 1977 den Ländern frei, ob sie die Verfaßte Studierendenschaft wollen oder nicht. Um die Studierenden vor politischen Dummheiten zu bewahren, wurde in den Ländern Bayern und Baden-Württemberg daraufhin die ASten und Fachschaften, bis dahin Vertretungsorgane der Studierenden, vorsichtshalber abgeschafft.

Etikettenschwindel

Da es aber einem demokratischen Staat mit folglich (?) demokratischen Universitäten widerspricht, wenn die zahlenmäßig stärkste Gruppe ganz ausgeschaltet wird, richtete mensch einen besonderen Ausschuß des Großen Senats ein: den Ausschuß für musische, sportliche, geistige und soziale Belange der Studierenden.

Diesen rein beratenden Ausschuß bezeichnete mensch dreist wie die bisherige Studierendenvertretung als AStA (im folgenden nur noch als sogenannter AStA, "AStA" bezeichnet). Er wird gebildet aus den 7 studentischen Mitgliedern des Großen Senats sowie ihre StellvertreterInnen, (seit 1990 zusätzlich aus den 3 studentischen Mitgliedern des kleinen Senats). Zu sagen hat der baden-württemberische Pseudo-"AStA" jedoch nichts; tätig werden darf er nur unter der Rechtsaufsicht des Rektors. (Vgl. Universitätsgesetz [UG] von Baden-Württemberg §3[3] und §95). Zu Fragen des Studiums, zu Problemen einzelner Fachbereiche oder gar zu politischen Fragen, z.B. BAföG oder Studiticket kann der "AStA" nicht aktiv werden. Die Fachschaften schaffte mensch gleich ganz ab. Mensch kann nicht mit etwas reden, was es nicht gibt

Auf diese Beschneidung ihrer Rechte ("Kastration", daher ist in Heidelberg auch der Begriff Kastra für "AStA" in Gebrauch) reagierten die Studierenden einiger derart aufgelöster Fachschaften, indem sie ihre eigenen Vertretungen schufen. In den Fachbereichen Mathematik und Physik finden z.B. seit 1983 Wahlen zur unabhängigen Fachschaft statt, die ununterbrochen seit 1977 existiert. An vielen Fachbereichen gibt es kontinuierlich oder immer mal wieder Institutsgruppen, Fachschaften oder Fachschaftsinitiativen die sich unabhängig von offiziellen Regelungen konstituieren. Sie legitimieren sich durch öffentliche Treffen und/oder Vollversammlungen, ErstsemesterInneneinführungen und ihre Arbeit am Fachbereich wie Klausurensammlung, Vorlesungsumfragen oder Feten. Wie die Zusammenarbeit mit den jeweiligen Instituten oder Seminaren klappt, hängt jedoch immer noch vom Wohlwollen der ProfessorInnen und des Ministeriums ab. Offiziell gab es diese Gruppen ja nicht - laut § 27 UG ist ihre Bildung "nicht zulässig" - und wie soll mensch mit etwas reden, was es laut Papier nicht geben kann?

...sonst ändert sich nix (?)

Spätestens in den Studierendenstreiks ("Unimut") des Wintersemesters 88/89 zeigte sich, daß mit einem Senatsausschuß für musische, kulturelle und sportliche Belange der Studierenden, einem Abhängigen Studierendenausschuß ("AStA"), allein die Mitwirkung der Studierenden nicht glaubhaft gewährleistet war. Zu den Notwendigkeiten einer Universität gehört auch die institutionalisierte Kommunikation zwischen Studierenden und Lehrenden der unübersichtlich und anonym gewordenen Fachbereiche und zwar nicht nur über Sport und Kultur, sondern auch über (Hochschul)politik und Probleme des Studiums.

Inzwischen gab es an fast allen Fachbereichen eigene Vertretungen, die sich an den meisten Universitäten zu eigenen Unabhängigen ASten (USten), Fachschaftsrätevollversammlungen oder, wie in Heidelberg, Fachschaftskonferenzen zusammengeschlossen hatten. Eigene Listen für die Uniwahlen aufstellend, erstarkten sie zusehends. Die Landesregierung entschloß sich daher, auf das bewährte Mittel des Etikettenschwindels zurückzugreifen: Seit Anfang 1990 bilden die drei studentischen Mitglieder im Fakultätsrat sowie deren VertreterInnen einen Ausschuß des Fakultätsrats, der "Fachschaft" genannt wurde. Sie vertreten nicht - gemäß der üblichen Verwendung der Bezeichnung - die Studierenden eines Fachbereichs, sondern sind ein beratendes Anhängsel des Fakultätsrats. Hauptziel der Etikettieraktion war nicht die Anerkennung jahrelanger Fachbereichsarbeit, sondern die "Zurückdrängung der Substrukturen, die sich als Ersatz für die Verfaßte Studentenschaft gebildet haben" (so Klaus von Trotha, damals CDU-Fraktionssprecher im Landtag, inzwischen Wissenschaftsminister). Ob der Flachheit dieser Idee werden diese offiziellen Pseudo-"Fachschaften" von den weiterhin bestehenden unabhängigen Fachschaften an den Fachbereichen gerne "Flachschaften" genannt.

Die FSK

Die unabhängigen Fachschaften koordinieren sich in Heidelberg weiterhin universitätsweit in der FSK. Die FSK tagt im Semester jede Woche öffentlich am Dienstag um 20.15 Uhr in den Räumen des Zentralen Fachschaftenbüros (ZFB) in der Lauerstr. Ihr gehören als stimmberechtigte Mitglieder alle Fachschaften (nicht die Flachschaften) an, Anträge können von allen (auch nicht-studentischen) Gruppen und Initiativen eingebracht werden.

Die fachbereichsübergreifende Arbeit der FSK läuft hauptsächlich in Referaten und Arbeitskreisen, die sich mit Themen wie Ökologie, Kultur oder Soziales befassen (vgl. "Referate und AKs der FSK"). Manchmal übernehmen auch Fachschaften uniweite Aufgaben.

Während die Arbeitskreise unabhängiger arbeiten, sind die ReferentInnen der FSK rechenschaftspflichtig und setzen neben eigener Arbeit die Beschlüsse der FSK um.

Die FSK und die Gremienwahlen

Zwar wollen uns ProfessorInnen glauben machen, sinnvolle Anträge fänden immer eine Mehrheit, unabhängig davon, wer sie einbringt. Nur: was sinnvoll ist, bestimmt die professorale Mehrheit... Und wer einmal erlebt hat, wie z.B. ein studentischer Redebeitrag in einem Gremium abgewürgt wurde, wird ein für allemal die Hoffnung verlieren, durch brave Gremienarbeit etwas zu erreichen.

Dennoch stellen die Fachschaften und die FSK zu den Uniwahlen KandidatInnen auf, um die wenigen Möglichkeiten studentischer Mitwirkung in den Gremien zu nutzen. Außerdem können so die geringen Mittel, die für studentische Arbeit bereitgestellt werden, den Aktivitäten der Fachschaften zugute kommen. Das heißt aber weder, daß die FSK sich als Hochschulgruppe versteht, noch daß sie nur in offiziellen Gremien arbeiten will, damit dort auch mal Studierende was sagen. Vielmehr ermöglichen erst die unabhängigen Strukturen der FSK die Artikulation und Organisation studentischer Belange und Interessen in den bestehenden Gremien; Einzig durch die Koordination der Fachschaften sind FSK-Mitglieder in den Gremien über alle Fächer informiert, können allgegenwärtige "Schiebereien" aufdecken und Argumente einbringen.

Die Wähler und Wählerinnen zeigen mit ihrer Entscheidung, daß sie dem Konzept der FSK zustimmen: Die FSK stellt seit 1989 gegen die hochschulpolitischen Gruppen (wie Roter Splitter, JuSos = JungSozialistInnen, L.H.G. = Liberale Hochschulgruppe oder RCDS = Ring Christlich Demokratischer Studenten) eine Liste für die Wahlen zu den offiziellen Gremien auf. Seitdem stellt sie auch die Mehrheit der studentischen Mitglieder im Großen und kleinen Senat; und so können die Positionen der Fachschaften auch in die Senate und anderen Gremien eingebracht werden [Anmerkung von 2004: Das stimmt nicht mehr so richtig. 2003 und 2004 hatte die FSK keine eigene Mehrheit mehr; das unabhängige Modell konnte aber dank der Unterstützung durch die Jusos dennoch fortgesetzt werden].

Dieser Text wurde mit leichten Änderungen aus dem FSK-Sozialhandbuch Winter 2000/2001 übernommen


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Erzeugt am 03.05.2023

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