Für die einen ist 2003 das Jahr der Bibel, für Baden-Württemberg soll 2003 das Jahr der Auslese werden. Glaubt man Minister Frankenberg, wird der bereits von Minister Trotha seit Jahren verkündete und bisher durch drei Stufen vorbereitete Hochschulinnovationsschubdurchbruch jetzt endlich kommen -- und zwar weder durch Studiengebühren noch durch neue Studiengänge, weder durch mehr Geld für die Hochschulen noch durch Orientierungsprüfungen, sondern durch Auswahlverfahren.
Hochschulen und Studierende werden -- so Stuttgart -- gleichermaßen profitieren, wenn in Zukunft anstelle von Abinoten, Eignung und Motivation entscheiden. Ermittelt werden Eignung und Motivation über Noten. "Kriterien hierbei sind die Leistungen in den Kernfächern Deutsch, einer Fremdsprache und Mathematik sowie Noten in den Fächern, die besondere Aussagen darüber zulassen, ob der Bewerber für den gewählten Studiengang geeignet ist." De facto findet also eine Veränderung des bisherigen Verfahrens statt. Wer zuvor den Abischnitt durch geschicktes Belegen noch ein bisschen nachbessern konnte, weil er oder sie zwar vielleicht hochmotiviert für Jura oder Sport war, aber in Mathe oder Französisch nicht so gut, muss in Zukunft anders rechnen. Welches die Fächer sind, die Aussagen über die Eignung zulassen, entscheiden die Hochschulen. So wird in Zukunft voraussichtlich für Jura in Heidelberg die Lateinnote mit ausschlaggebend sein. Wer Latein abwählt und stattdessen vielleicht Informatik macht, um sich hier als JuristIn später zu spezialisieren, sollte sich eine andere Hochschule suchen -- fürs Abwählen können auch Maluspunkte vergeben werden...
Die Hochschulen können jedoch zusätzlich auch auf solche Faktoren eingehen: "Darüber hinaus können besondere Vorbildungen, Praktika und andere außerschulische Leistungen, Auswahlgespräche oder schriftliche Tests berücksichtigt werden." Diese Kriterien -- die den meisten beim Stichwort "Auswahl" vermutlich als erste einfallen -- bingen jedoch einen erheblichen Mehraufwand mit sich. Die auswählenden Einrichtungen werden es sich daher gut überlegen, ob sie sich hierauf einlassen. Zwar gibt es bereits einige Studiengänge, in denen Auswahlgespräche oder Auswahltests stattfinden, doch bisher nur in überschaubaren Studiengängen und in solchen, die Sondermittel für die Durchführung der Auslese erhalten. Bei Studiengängen, in denen die Zahl der Bewerbungen groß ist, wird anhand des Notenschnitts der Noten der "Kernfächer" erst eine Vorauswahl getroffen. Da die Verfahren aber selbst dann noch sehr aufwendig sind (der Abischnitt steht auf dem Zeugnis, die anderen Schnitte aber nicht und müssen von den Verwaltungen /unimut/aktuell/1035121973der Hochschule eigens einzeln ermittelt werden), arbeiten die Hochschulen daran, diese Gebühren auf die StudienbewerberInnen umzulegen -- der UNiMUT berichtete anlässlich der Jahresfeier bereits darüber. Pech haben damit neben denen, die kein Geld für vier oder fünf Auslesen haben, vor allem die, deren Noten nicht so dolle sind. Fast wie bisher.
Pech haben weiterhin auch diejenigen, die kein Abitur haben. Besonders an Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen gibt es Studiengänge, für die sich Menschen ohne Abitur, aber z.B. mit Berufserfahrung, hoher Eignung oder großer Motivation interessieren. Bisher konnten sie über spezielle Zulassungsverfahren evtl. doch zu einem Studienplatz kommen. In Zukunft können nur noch 10% der Plätze für solche Personen bereit gehalten werden. Wobei diese 10% der Plätze aber z.B. auch noch für die Warteliste herhalten müssen. Wie die ausländischen Studierenden, für die es in vielen Studiengängen auch Quoten gibt, verrechnet werden, ist auch noch unklar.
Studierende aus anderen Bundesländern oder von deutschen Schulen im Ausland, die die "Kernfächer" nicht belegt haben bzw. nicht belegen konnten, haben ein Problem. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Baden-Württemberg durch die Bevorzugung der sogenannten "Kernfächer" auch in Sachen Schulpolitik Tatsachen schaffen will. Die Bezeichnung "Kernfächer" gibt es nur in Baden-Württemberg, und dass die Kultusministerin ihr Modell des Abiturs für das beste hält, überrascht nicht. Pech haben auch diejenigen, die gerne den nicht zustande gekommenen Sportleistungs- oder Chemiegrundkurs belegt hätten und Sport oder Chemie studieren wollen. Ein Maluspunkt ist ihnen sicher, ein Studienplatz nicht; doch vielleicht zählt die Teilnahme bei Jugend forscht oder Jugend trainiert für Olympia -- falls die Schule dort überhaupt mitmacht...
Die Landeskonferenz der Unirektoren (LRK) steht im Grunde hinter ihrem ehemaligen Vorsitzenden Frankenberg. In einer Presseerklärung wird allerdings darauf hingewiesen, dass neben der Benachteiligung von AusländerInnen (zumindest wenn man Gespräche oder Tests vor Ort durchführt) ein erheblicher Aktenberg droht, da jeder Schritt des Verfahrens zu erfassen sei. Was vermutlich soviel heißen soll, dass man sich nicht in die Karten -- sprich die Zusatzkriterien -- gucken lassen will.
Deutlichere Kritik trug die Sprecherin der LRK auf einer Anhörung der GRÜNEN-Landtagsfraktion vor: es sei ein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit, dass BewerberInnen, die von der Hochschule abgelehnt würden, aufgrund der Warteliste dann doch studieren könnten. Das Bundesverfassungsgericht habe zwar vor Jahren -- aus rein ideologischen Gründen -- entschieden, dass der Wunsch eine Beruf auszuüben auch schützenswert sei und niemand endgültig am Studium des Wunschfaches gehindert werden dürfe, dies gefährde jedoch die Wissenschaftsfreiheit.
Das Ziel der LRK ist klar: wer einmal als ungeeignet ausgelesen ist, soll keine weitere Chance erhalten, zumindest an der ablehnenden Hochschule. Ein möglichst undurchsichtiges, aktenarmes Verfahren wäre hierbei sicher hilfreich. Aufgrund der Vorauswahl nach Noten hätten damit Leute mit "schlechten" Noten sehr leicht keine Chancen mehr auf Studienplätze -- zum Schutze der Freiheit der Wissenschaft.
Die Gründe, aus denen die RektorInnen für die Verfahren sind, sind uneinheitlich und daher sind sie auch für unterschiedliche Verfahren. Diejenigen unter ihnen, die sich ernsthaft überlegen, Auswahlgespräche durchzuführen, sollten wissen, dass aussagekräftige Gespräche nicht unter 90 Minuten dauern und von geschulten Leuten durchgeführt werden sollten. Zumindest wusste dies ein Eignungspsychologe auf der erwähnten GRÜNEN-Anhörung zu berichten. Allerdings wusste er auch zu berichten, dass Auswahlgespräche insofern immer sinnvoll sind, als sie die Bindung der Auswählenden an die Ausgewählten verbessern bzw. überhaupt erst stiften (vielleicht rührt daher die derzeitige Begeisterung für Stiftungshochschulen. d.Red.).
Sprich: Wer glaubt, das richtige Fach studieren zu wollen und bereit ist, sich für das Gespräch vorher ein wenig fit zu machen, kann fast sicher sein, dass sich der Einsatz lohnt. Und beide Seiten haben dann im Laufe des Studiums ein geringes Interesse daran, ihre vorgebliche Auswahlkompetenz bzw. Eignungsmotivation in Frage zu stellen. Psychologisch spielt die Eignung dann keine so große Rolle mehr im Studium. Auf die Prüfungen bereitet man sich auch irgendwie vor. Fast wie bisher eben...
Es wird vermutlich doch eine Weile dauern, bis sich die Auswahl durchsetzt -- einige Fächer wollen nicht, andere schon, die einen werden sich an aussagekräftigen Verfahren versuchen, die anderen in neuen Würfeltechniken. Ohnehin gilt das Gesetz nur für die Studiengänge mit lokaler Zulassung, und das sind zumindest an der Uni Heidelberg nicht viele. Das Ministerium jedoch würde gerne sehen, dass flächendeckend ausgewählt wird. Neue Studiengänge werden daher nur genehmigt, wenn sie ein Auswahlverfahren beinhalten. Und da das Ministerium nicht nur Prüfungsordnungen billigt, sondern auch Sondermittel zuweist oder Rufe erteilt, wird sich die Zahl der Fächer mit Zulassungsverfahren langsam erhöhen. Schließlich soll es sich ja für alle lohnen! Wir werden abwarten, wer alle sind.
Dieser Artikel wurde zitiert am: 03.01.2004